„Artemisia“ wurde 1657 in Venedig erstmals aufgeführt, zu einer Zeit, als sich der regelmäßige Opernbetrieb mit acht bis zehn neuen Werken pro Jahr eingespielt hatte. Cavalli und dem Librettisten Nicolò Minato war daran gelegen, neue Wege in der dramatischen und musikalischen Erzählung zu gehen. So präsentiert sich „Artemisia“ auch im Vergleich mit anderen venezianischen Opern des 17. Jahrhunderts als frisch und abwechslungsreich. Insbesondere durch Integration der komischen Nebenhandlung in die einfühlsam-ernste Haupthandlung gelingt es Minato und Cavalli, nicht weniger als sechs Protagonisten als denkende, handelnde und fühlende Wesen individuell und anrührend darzustellen.

Artemisia – eine Figur, die von der historischen Artemisia I. von Karien (ca. 480 v. Chr.) inspiriert ist – ist eine Königin, die durch die gesellschaftlichen Zwänge ihrer Stellung ihre persönlichen Gefühle maskieren muss, was sie in extreme innere Konflikte stürzt. Im Laufe der Oper lernt sie, ihren Emotionen zu vertrauen und gewinnt damit ihre persönliche Freiheit zurück – ein anrührender psychologischer Wandel, der auch für ein modernes Publikum unmittelbar nachzuvollziehen ist. Dabei handelt es sich bei der Oper um alles andere als ein lediglich psychologisierendes inneres Drama; sie enthält auch viel unterhaltsame Handlung, etwa den Auftritt eines Gespenstes, ein Duell, Erpressungsversuche, erfolgreiches und missglücktes Liebeswerben, Kriegserklärungen und Friedensschlüsse sowie eine komische Nebenhandlung im Dienermilieu, die an die Streiche von Max und Moritz erinnert.

Cavalli ließ sich von diesem Drama zu einer lebendigen und mitreißenden Partitur inspirieren. Der Komponist zeigt sich dabei auf dem Gipfel seiner dramatischen Kunst – präsentiert die Handlung auf spannende, schöne, abwechslungsreiche und witzige Art, stets Emotion und Aktion in der Musik verbindend. In dem ihm eigenen äußerst melodischen Rezitativstil erzählt er die Geschichte auch heute noch äußerst direkt und wirkungsvoll.

Die neue Edition ist gleichermaßen für Aufführungen und zu Studienzwecken geeignet. Sie basiert auf Cavallis handschriftlicher Partitur, die dem Komponisten zu seinen eigenen Aufführungen der Oper als Grundlage gedient hat, und die darum viele Informationen zur Aufführungspraxis des 17. Jahrhunderts enthält – sie ermöglicht gewissermaßen den Blick auf die Oper aus der Perspektive von Cavallis eigenem Pult im Orchestergraben. Diese Erkenntnisse sind in die Edition eingeflossen und werden in einem umfangreichen, dabei übersichtlichen Kritischen Apparat aufbereitet. Für eine moderne Aufführung bietet die Edition vielfältige Vorschläge und Material, um die Oper analog den historischen Gegebenheiten flexibel den heutugen Aufführungsumständen anpassen zu können.