Mehr als ein Jahrzehnt zögerte Cavalli, den Text eines jungen Dichters, dem der Ruhm im Jahr 1642 die Pforten der Lagunenstadt geöffnet hatte, in Musik zu setzen. Er zweifelte, ob Francesco Melosios „Orione“ als Libretto für eine Opernvertonung einen Markt haben würde. Der Text war zwar spritzig und geistreich, doch hatte er einen Fehler: Er war nicht „venezianisch“. Die größten Bedenken Cavallis galten aber vielleicht einem anderen „unvenezianischen“ Zug. Die Personen in „Orione“ sind allesamt ein wenig exaltiert, ja geradezu unsympathisch. Melosios Zynismus zwingt den Zuschauer, mehr den Witz des Textes zu genießen, als sich rühren zu lassen. Trotzdem entschied Cavalli letztlich, das amüsante Libretto nicht in der Schublade liegen zu lassen.

Zur Handlung: Blind vor Rachegefühlen, erreicht Orione während der Pythischen Spiele Delos. Dort erlangt der Halbgott durch Apollo das Augenlicht zurück und wird gerade dadurch zum Opfer, dass er Dianas Schönheit erblickt. Die erwiderte Liebe löst unter den versammelten Göttern Eifersucht aus, die noch durch die Einfalt des jungen Mannes und seines dummen Dieners angefeuert wird. Diana selbst bringt den Geliebten um, den sie nicht erkennt, unbewusst angestachelt durch ihren Bruder Apollo, der gerade eifersüchtig von den Finten der Venus und den Launen Cupidos zurückgekehrt ist.

In der Umsetzung der Vorlage passt Cavalli seinen Stil an das Libretto an und demonstriert damit eine außerordentliche theatrale Sensibilität. Diese jedoch erreichte das zeitgenössische Publikum nicht, welches nach immerhin vier Jahrzehnten „Operngeschichte“ an bestimmte dramaturgische Konventionen und musikalische Abläufe gewöhnt war, die in „Orione“ nicht stattfinden. Tatsächlich erlebte das Werk nur einen Achtungserfolg. Die Kreuzung eines alten, aber innovativen Librettos mit einer modernen, aber abseits der Schemata stehenden Musik konnte zu ihrer Zeit keine Wirkung entfalten. Uns erlaubt sie jedoch mit ihrer sprachlichen Mehrschichtigkeit erstaunliche Einblicke in ihre Epoche. Den heutigen Hörern, die zu einer geduldigen Wiederentdeckung bereit sind, offenbart sich „Orione“ auch nach Jahrhunderten noch frisch in seiner ganzen innovativen Verrücktheit.

Die Neuausgabe im Rahmen der Reihe „Francesco Cavalli – Opere“ bietet einen akkurat edierten Text der Noten und des Librettos und eignet sich damit gleichermaßen für die Aufführung als auch wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem in Cavallis Schaffen ungewöhnlichen Werk. Besonders lesenswert ist die historische Einleitung, die über die Entstehungsgeschichte hinaus einen faszinierenden Einblick in den italienischen Opernbetrieb des 17. Jahrhunderts bietet.