Als zweiter Band der Reihe Bärenreiter Facsimile erschien nach Mozarts Jupiter-Sinfonie das „Opus ultimum“ Johann Sebastian Bachs, noch nach der Kunst der Fuge 1748/49 kurz vor seinem Tod vollendet. Dieses Spätwerk ist konzentriert und reich an musikalischen Satzarten wie kaum eine andere Komposition. Hans Nägeli bezeichnete die Messe schon 1818 enthusiastisch als das „größte musikalische Kunstwerk aller Zeiten und Völker“. Seit damals hat sie ihren Platz auf dem Olymp der Musikgeschichte. Die Bewahrung eines solchen Kulturguts gehört zu den vornehmsten Aufgaben eines Faksimiles, zumal wenn die Handschrift, wie im Fall der h-Moll-Messe, vom Tintenfraß bedroht und geschädigt ist. Für Bach-Verehrer ist es zudem bewegend zu sehen, wie Bachs Schrift in einigen Passagen die Mühe widerspiegelt, die ihn sein letztes Werk kostete.

Das sorgfältig reproduzierte und aufwändig ausgestattete Faksimile dokumentiert und sichert den heutigen Zustand des kompletten Autographs. Es wird ergänzt durch ältere Aufnahmen einzelner Seiten, die den Inhalt inzwischen schwer lesbarer Seiten zeigen. Der renommierte Bach-Forscher Christoph Wolff erläutert in seiner Einleitung die Bedeutung des Werkes, gibt einen Überblick über die Entstehungsgeschichte und weist auf besondere Merkmale der Handschrift hin.

Bach ganz nah Einmal gerät Bach an die Grenzen seiner Kunst, auf fleckigem, 260 Jahre altem Papier. „Et expecto …“ heißt es in der h-Moll-Messe, „ich erwarte die Auferstehung der Toten.“ Bach schreibt Modulationen jenseits des Fassbaren. Er muss sie erkämpfen. Er streicht, obwohl es die Reinschrift ist, schraffiert, kratzt, bis das Papier bricht. Er ist schon alt, die Zeichen neigen sich nach links. Längst nicht so beschwingt wie im früher entstandenen „Cum sancto Spirito“ wirkt die Handschrift hier. Nirgends liest man, ohne berührt zu sein von der Nähe, die das Faksimile gewährt – eines der aufwendigsten, die je gedruckt wurden. Der Band ist seine 398 Euro wert.
(V. H., DIE ZEIT Literatur Dezember 2007)

Vor dem Verfall gesichert – im Faksimile bewahrt
Das Partiturautograph von Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe

von Wendelin Göbel (aus: Musik Kirche 4/2007)

Viele alte Musikhandschriften sind dem Verfall preisgegeben. Dies gilt besonders für die handschriftlich überlieferten Werke Bachs, denen der Tintenfraß immens zusetzt. Neben der Konservierung auf dem neuesten technischen Stand sind Faksimiles eine Möglichkeit, das Vermächtnis großer Werke wie der h-Moll-Messe der Nachwelt zu erhalten. Der Autor berichtet über die erhaltenden Maßnahmen und die Entstehung eines Faksimiles.

Die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach, sein vokal-kompositorisches Vermächtnis, ist uns in autographer Partitur überliefert. Ebenfalls von Bachs eigener Hand sind die vier durchnummerierten Zwischentitel: No. 1. / Missa; No. 2 / Symbolum Nicenum ; No. 3. / Sanctus; No. 4. / Osanna, Benedictus, Agnus Dei et Dona nobis pacem . Carl Philipp Emanuel Bach führte das Werk im Nachlassverzeichnis der Werke seines Vaters als „Die große catholische Messe”. Christoph Wolff weist darauf hin, dass der Begriff „catholisch ” sich bei der Messe in erster Linie auf die „una catholica ecclesia ” des Nizänischen Glaubensbekenntnisses bezieht, welches an hohen Festtagen an die Stelle des apostolischen Glaubensbekenntnisses trat (und heute noch tritt). Dieses Bekenntnis konnte gerade seit dem 1694 erfolgten Übertritt von August dem Starken zur römisch-katholischen Kirche im konfessionell gespaltenen Sachsen für die Einheit der christlichen Kirche stehen. Der heute gebräuchliche Titel „h-Moll-Messe” bildete sich in Kreisen der Sing-Akademie zu Berlin, die das Werk ab 1811 in Teilen nach und nach vollständig aufführte; unter diesem Titel erschien dann auch die zweite Lieferung der Messe 1845 bei Nägeli in Zürich und Simrock in Bonn: Die hohe Messe / in H-moll .

Die Handschrift – ihre Wege und ihre Alterung

Die Originalpartitur gelangte über einen vergleichsweise kurzen Weg von Carl Philipp Emanuel Bach in Hamburg an ihren heutigen Aufbewahrungsort: 1805 kam sie in den Besitz von Hans Georg Nägeli in Zürich, der zugleich ihr erster Verleger wurde. 1857 erwarb Friedrich Chrysander die Handschrift von Hermann Nägeli für die Bach-Gesellschaft, seit 1861 wird sie in der Staatsbibliothek zu Berlin unter der Signatur Mus. ms. P 180 aufbewahrt. Die Handschrift ist vollständig. Problematisch aber ist ihr Erhaltungszustand. Bereits 1924 erschien eine Faksimile-Ausgabe im Insel-Verlag Leipzig. Hier schon sieht man vor allem im letzten Teil gravierende Schäden bis hin zu stellenweise kaum, ja nicht mehr lesbaren Partien. Hauptursache für diese Schäden ist die von Bach verwendete Eisengallus-Tinte, zu deren seit dem zweiten Jahrhundert nachweisbaren Herstellung Galläpfel, metallische Salze, Gummi arabicum und Holzessig verwendet werden. Wird sie zur Beschriftung von Papier verwendet, greift die in der Tinte enthaltene Säure je nach Zubereitung das Papier an. Erst in jüngeren Jahren gelingt es durch wissenschaftlich konservatorische Maßnahmen, den Prozess des Tintenfraßes anzuhalten. Teil dieser Maßnahmen ist das manuelle Papierspaltver- fahren. Hierbei werden die gefährdeten bzw. beschädigten Blätter in speziellem Bad so weit durchfeuchtet, dass sich das Papier in Recto- und Verso-Seite auseinanderziehen lässt. Anschließend werden die hauchdünnen Halbblätter einer chemisch neutralisierenden Behandlung unterzogen, um danach wieder in ursprünglicher Recto-verso-Position auf ein dazwischenliegendes   Trägerpapier aufgebracht zu werden. Nach behutsamer Trocknung werden die stabilisierten Blätter bzw. Bögen in klimatisierten Räumen, vor Licht geschützt, archiviert. Beim Spalten des Papiers ist es besonders schwierig, die bereits beschädigten, zerbrechlichen Stellen nicht noch weiter zu beschädigen. Sicherheitshalber wird deshalb vor dem Spalten eine Fotodokumentation angelegt. Wer nun das in den Jahren 2002 bis 2003 konservatorisch behandelte Autograph der h-Moll- Messe betrachtet, kann aufatmen. Bereits der Geruch nach frischem Papier vermittelt den Eindruck neuer Dauerhaftigkeit. Anstelle früherer Sicherungsversuche mit über das Original gelegter Seidengaze tritt das Original wieder unverstellt zutage, dank des Trägerpapiers auch in greifbar körperlicher Stabilität. Auf eine Bindung wurde verzichtet, zumal die frühere Bindung ohnehin nicht original war. Das Original wird heute in einer Schatulle aufbewahrt, in der die von Bach nach Zwischentiteln geordneten Bogen übereinanderliegen.

Schonende Technik – die Faksimilierung

Um wertvolle Handschriften zu sichern, vor allem aber, um sie leichter zugänglich zu machen, wurden schon bald nach der Erfindung der Photographie Faksimiles hergestellt. Zu den ersten Faksimiles überhaupt gehört die Serie Paléographie musicale : les principeaux manuscripts de chant grégorien, ambrosien, mozarabe, gallican / publ . en facsimilés phototypiques par les Bénédictins de Solesmes …/ Solesmes : Impr. Saint Pierre / 1. 1889–. Bis heute wird alle nur erdenkliche Sorgfalt aufgewandt, um dem Imperativ „ fac simile ” nachzukommen. So schwer der Begriff des Faksimiles einzugrenzen ist, gemeinsam ist jedem seiner Aspekte, eine Vorlage so getreu wie möglich zu vervielfältigen. Bis zum fertigen Faksimile ist es ein weiter Weg, der nicht allein viel technische Erfahrung erfordert, sondern auf dem auch viele Entscheidungen zu treffen sind, um das Ziel zu erreichen, das Original so präzise nachzubilden, dass Wissenschaftler, Interpreten und überhaupt möglichst viele Interessierte eine Handschrift studieren können, ohne dass das empfindliche Original selbst herangezogen werden muss. Freilich geht es um Ähnlichkeit und nicht um Verwechselbarkeit mit dem Original, wie bei den legendären Trauben des Zeuxis, die so echt ausgesehen haben sollen, dass sogar Vögel daran pickten. Das jetzt im Bärenreiter-Verlag erschienene Faksimile der h-Moll-Messe* entstand in Zusammenarbeit mit der Staatsbibliothek zu Berlin und dem Bach-Archiv Leipzig, es wurde herausgegeben und kommentiert von Christoph Wolff. Im Unterschied zu den vorangegangenen Faksimilierungen der Messe (Insel-Verlag 1924, Bärenreiter-Verlag 1965) wird neben der oben genannten Handschrift erstmals die Frühfassung des „Sanctus“ von 1724 faksimiliert. Das 2007 publizierte Faksimile nutzt alle heute verfügbaren Techniken: Das Original wurde 2006 in den Räumen der Staatsbibliothek mit hochwertigen Scannern digitalisiert. Die heutige Scantechnik erlaubt größtmögliche Schonung des Originals bei völlig gleichmäßiger Ausleuchtung und Abtastung der Vorlage. Die gewonnenen Dateien sind unabdingbar für ein erstklassiges Faksimile, sie können aber nicht ohne weitere Bearbeitung zum Druck auf Papier eingesetzt werden. Die Bearbeitung der Digitalisate ist vielmehr der aufwendigste und schwierigste Teil bei der Herstellung eines Faksimiles. Das versteht man leichter, wenn man Probeausdrucke,   im weiteren Verlauf Andrucke mit dem Original abgleicht; selbst unter Normlicht scheint das abzubildende Papier seine Farbe zu ändern, je nach dem, aus welcher Richtung man darauf blickt, so dass schon die scheinbar einfache Aufgabe, die Papierfarbe des Originals zu treffen, sich als schwer erweist: Das Papier darf im Druck nicht flach, aber auch nicht düster wirken,   es darf nicht in Rot-, Blau- oder Gelbfärbung abgleiten. Zugleich und vor allem muss die Hand- schrift selbst dort, wo sie im Original nur schwach erkennbar ist, auch im Druck genau so präzis wiedergegeben werden, und dort, wo die Tinte im Original tief schwarz erscheint, muss auch der Druck dies tun und nicht etwa nur grau aussehen. Hierzu müssen am Computer etliche Parameter eingestellt werden, vor allem müssen die Helligkeitsverläufe der einzelnen Farben entsprechend angepasst werden. Das Papier eines Faksimiles ist ebenfalls sorgfältig zu wählen. Es sollte einerseits alle Farben möglichst klar wiedergeben, andererseits sollte es im Griff, in der Oberflächenstruktur und in der Eigenfärbung zur Vorlage passen. Heute nimmt man daher in der Regel kein sogenanntes gestrichenes Papier, also ein mit Kreide behandeltes Kunstdruckpapier, sondern spezielle, besonders hochwertige Werkdruckpapiere, wie sie unter anderem in Italien gefertigt werden. Andrucke sind teuer, weil die Druckerei die Maschine wie beim späteren Auflagendruck zeitauf- wendig einrichten muss. Dennoch kommt man bei einem echten Faksimile nicht darum herum, solche Andrucke anzufertigen und diese mit dem Original zu vergleichen, denn erst so hat man die Möglichkeit, das letztendliche Druckergebnis zu kontrollieren, also das Zusammenfließen aller Faktoren vom Scan über dessen Bearbeitungen bis hin zur belichteten Druckplatte, deren Information wiederum dafür sorgt, dass die Farben der einzelnen Drucklaufwerke auf dem seinerseits getönten Papier nach dem Trocknen das getreue Abbild des Originals ergeben. Manche Faksimiles bilden die Vorlage auch im Beschnitt nach, d. h. der meist unregelmäßige Rand der Vorlage wird über Bogen für Bogen verschiedene Stanzformen nachgebildet. Bei Bachs h-Moll-Messe wurde indessen bewusst darauf verzichtet: Zu fein ist der Rand der Originalpapiere geformt, ausgefranst oder auch beschädigt, zu nah reicht Bachs Handschrift bis an den Rand, als dass das Risiko, durch individuellen Seitenbeschnitt etwas hiervon zu verlieren, hätte eingegangen werden können. Es schien daher angebracht, die einzelnen Blätter so, wie sie von der Bibliothek aufgenommen worden waren, auf den neutralen Grund des Druckpapiers zu stellen. Wer heute das Original besichtigt, erhält einen ähnlichen Eindruck: Blatt für Blatt wird auf der Leseunterlage betrachtet. Schließlich ein Wort zum Einband: Da es sicherlich nie einen von Bach autorisierten Einband für seine Partitur gab, das Faksimile aber aus Gründen der Praktikabilität in Buchform erscheint, kam nur ein Einband infrage, der stilistisch und inhaltlich passt, ohne den Anspruch zu erheben, etwas vom Original nachzubilden. So wurde für den Einband der h-Moll-Messe aus der Sammlung von Karl Vötterle, dem Gründer des Bärenreiter-Verlages, ein originales historisches Schmuck- papier als Vorlage gewählt: In mattem Goldglanz schimmern barock ineinander verschlungene Reben auf violettem Grund. Ein mustergültiges Faksimile erschöpft sich nicht in der gelungenen Wiedergabe einer Handschrift. Mindestens ebenso viel Sorgfalt und Wissenschaft ist nötig für den Kommentar, der hier aus der Feder von Christoph Wolff stammt. Was er in diesem Kommentar über die h-Moll-Messe zusammenfassend schreibt, weist auch dem Faksimile seine bewahrende Funktion zu:

Insgesamt vertritt die h-Moll-Messe ein Maß an kompositionstechnischer Meisterschaft und intellektueller Durchdringung inhaltlicher Gedanken, dessen exemplarisches Niveau Bach voll bewusst gewesen sein muss. In diesem Sinne sollte die große Messe, deren Text die altkirchliche theologische Doktrin über die Jahrhunderte hin überliefert, gewiss auch dazu bestimmt sein, Bachs musikalisch-künstlerisches Credo für die Zukunft zu bewahren.

* Johann Sebastian Bach: Messe in h-Moll BWV 232 mit Sanctus in D-Dur (1724) BWV 232 III . Autograph. Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. Kommentar von Christoph Wolff. Bärenreiter Facsimile . Faksimile-Reihe Bach’scher Werke und Schriftstücke · Neue Folge II / Documenta Musicologica zweite Reihe, Band XXXV. ISBN 978-3-7618-1911-1. 2007. 254 Seiten. Halbleinen gebunden.