Die Gattung der Motette hat im 15. Jahrhundert einen bedeutenden Wandel erlebt, in einem Prozess der grundsätzlichen Ausdifferenzierung der Gattung als zentraler kompositorischer Denkform. Für die Zeit um 1400 lässt sich noch relativ leicht eine normative Formulierung des Gattungsparadigmas erkennen, und zwar in den komponierten Werken selbst. In der Zeit um 1500 ist die Situation bis zur Unübersichtlichkeit schwierig – ohne dass damit ein Verlust an Systematik verbunden gewesen ist.

Der hier angedeutete Prozess, der etwa die Zeit zwischen Dufays Geburt und den ersten gedruckten Motettenbüchern Petruccis umfasst, ist in der Forschung des öfteren beschrieben worden. Doch sind Erklärungsmodelle bisher praktisch nicht erprobt worden. Offenbar hängt die erstaunlich feinnervige Pluralisierung der Gattung im 15. Jahrhundert zusammen mit einer ebenso subtilen funktionalen Differenzierung, die abhängig ist von Institutionen, liturgischen, para- oder außerliturgischen Kontexten, von poetologischen, zeremonialen und regionalen Besonderheiten, schließlich von den Modi der Aufzeichnung und der Distribution.Der bedeutende Strukturwandel lässt sich folglich als Interaktion der verschiedensten Parameter verstehen.
An diesem Punkt setzen die hier veröffentlichten Beiträge der Tagung 2010 in Münster an, in denen erstmals versucht wurde, dieser Interaktion dezidiert nachzuspüren.